Printausgabe vom 20.11.2007

Poetische Entdeckungsreise auf der Orgel

Von Susanne Hecker
Kriftel. Die Rückbesinnung auf eine poetisch verklärte Vergangenheit gehöre zu den Wesenszügen der Epoche der Romantik, stand auf dem Programmzettel des diesjährigen Konzerts bei Kerzenlicht in St. Vitus. Und auf eine poetische Entdeckungsreise schickte Kantor Andreas Winckler seine Zuhörer mit drei ausgewählten Sonaten der romantischen Orgelliteratur. Nicolas-Jacques Lemmens (1823-1881) und sein Schüler Alexandre Guilmant (1837-1911) waren die beiden Komponisten, um die sich das Programm drehte. Ihre Werke waren gut ausgewählt. Obwohl die Orgel von St. Vitus sehr viel mehr hergibt, verzichtete Andreas Winckler vor dem Hintergrund des Volkstrauertages auf pompöse Werke, konzentrierte sich stattdessen mit seiner Auswahl auf Klarheit, Transparenz und intensiven Klang der Musik, auf die zarten Facetten der Kompositionen und das Nuancenspiel mit den einzelnen Registern

Mehr als einmal hat er bewiesen, dass er bei den Romantikern „zuhause“ ist – das stand auch an diesem Sonntagabend außer Frage. Ungewöhnlich jedoch war die große innere Ruhe, mit der Winckler die drei doch sehr verschiedenen Werke vortrug. Lemmens gehört der traditionellen Orgelschule an. Seine Sonate Nr. 1 d-moll erklingt geradlinig, sauber, logisch und dadurch fast unspektakulär. Sein Schüler Guilmant hingegen steuert mit seiner Sonate Nr. 42 d-moll und besonders mit der Sonate Nr. 7 F-Dur durch die Spätromantik hindurch direkt auf die Moderne zu. Er geizt nicht mit Dissonanzen und „schrägen“ Passagen. Dafür haben seine Melodien und die begleitenden Harmonien eine fast schmerzende Schönheit. Als Musik für eine nur von Kerzen erleuchtete Kirche kann man sich kaum etwas Schöneres vorstellen. Es ist zu vermuten, dass diese Orgelmusik anders gewirkt hätte, wäre der Raum in helles Licht getaucht gewesen. So aber, beim flackernden Schein, ohne die Möglichkeit sich durch das Lesen von Programmheften abzulenken, in einer Kirche mit fast 160 still lauschenden Besuchern drang der Klang ausschließlich über die Ohren nach innen. So kann man Poesie tatsächlich neu entdecken.