Printausgabe vom 21.11.2006
Besinnliche Stunde mit Orgelmusik
Von Lutz Riehl
Kriftel.
Für sein „Konzert bei Kerzenlicht“, das in St. Vitus schon Tradition besitzt,
hätte Kirchenmusiker Andreas Winckler keinen besseren Zeitpunkt wählen können,
als den vergangenen Sonntag; war doch das Wetter – passend zum Volkstrauertag
und zum November – trüb und regnerisch. Kein Wunder also, dass die Kirche bis
auf den letzten Platz gefüllt war, die zahlreichen Zuhörer durften sich auf eine
in jeder Hinsicht besinnliche Stunde freuen.
Bereits der ausschließlich durch unzählige Kerzen beleuchtete Kirchenraum
bildete einen atmosphärisch äußerst beeindruckenden Rahmen, dem Winckler
romantische Orgelmusik aus dem 19. Jahrhundert zur Seite stellte. Diese „Musik
aus dem Zeitalter der Dampfmaschine“ sei, so Pfarrer Andreas Unfried im Rahmen
seiner Konzerteinführung, ein Gegenentwurf zur Zeit der aufkommenden
Industrialisierung und Schnelllebigkeit, in der der Mensch als Individuum
zunehmend an Bedeutung verliere. Daher könne diese Musik auch in der heutigen
Zeit, dem Zeitalter des Internets (Unfried) einen Gegenpol bilden.
Mit Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) und Josef Gabriel Rheinberger
(1839-1901) standen an diesem Nachmittag zwei Komponisten im Vordergrund, die in
ihrer Musiksprache etwas zu ihrer Zeit gesagt haben.
Das erste Stück war die Sonate Nr. 5 in D-Dur aus den Sechs Orgelsonaten op. 65,
die Mendelssohn 1845, knapp zwei Jahre vor seinem Tod, vollendete. Für den
Komponisten bildeten diese Stücke die Quintessenz der Erfahrungen, die er im
Laufe seines Lebens mit der Orgel machte. Daraus besaßen diese Sonaten auch
hinsichtlich des Umgangs mit der musikalischen Form ein beachtliches Potential,
noch im selben Jahr lobte Robert Schumann die „poetischen neuen Formen“ dieser
Kompositionen. So wirkt die fünfte Sonate, aufgrund der unmittelbaren
Aneinanderreihung der drei Sätze, als eine große, in sich geschlossene Einheit.
Der Verlauf des Stückes gestaltet sich mit dem eröffnenden schlichten Andante,
dem treibenden Andante con moto sowie dem festlichen Allegro maestoso, als
kontinuierliche Steigerung, die durch Wincklers differenzierte, ausgewogene
Verwendung der Klangfarben unterstrichen wird.
Im Zentrum des Konzertes stand die gewaltige Orgelsonate Nr. 8 in e-moll von
Josef Gabriel Rheinberger, neben Max Reger der wichtigste deutschsprachige
Orgelkomponist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jeder der vier Sätze
dieses Werkes könnte ohne weiteres als ein eigenes Werk stehen; angefangen beim
festlichen Präludium und Fuge am Beginn der Sonate. Die gut nachvollziehbare
Gestaltung des komplexen Fugenthemas und die erneute feinsinnige Abmischung der
Klangfarben ließen ein Gefühl der Spannung aufkommen. Auch das tänzerische und
hüpfende Intermezzo, bei dem Winckler mit wirkungsvollen Echo-Effekten
arbeitete, steht dem in nichts nach. Das kurze, durch chromatische Themen
drängend wirkende Scherzoso bildete eine Überleitung zur abschließenden,
dramatisch stringent konzipierten Passacaglia, die unverkennbar in der großen
Orgelpassacaglia in c-moll von Johann Sebastian Bach ein Vorbild hatte.
Selbstverständlich ließ sich auch hier Andreas Winckler die vielfachen
Nuancierungsmöglichkeiten bei den Klangfarben nicht entgehen.
Mit Mendelssohns Orgelsonate Nr. 6 in d-moll beschloss Andreas Winckler das
Programm. Mit der traditionellen Sonate hat dieses Werk nur noch wenig
gemeinsam; im Grunde besteht sie aus verschiedenen und recht abwechslungsreichen
Variationen über den protestantischen Choral „Vater unser im Himmelreich“, der
als eine Art Chorsatz im Stil Bachs zu Beginn vorgestellt wird. Danach wird der
Choral auf unterschiedlichste Weise bearbeitet, mal als Trio, mal als
hochvirtuose Toccata, oder als Fuge. Die technisch wie musikalisch einwandfreie
Leistung Wincklers fand großen Beifall.